Ein Imam hatte einer Lehrerin in Berlin den Handschlag verweigert, woraufhin diese das Gespräch über den Sohn des Geistlichen abbrach: mangelnder Respekt und Frauenfeindlichkeit, so ihr Vorwurf. Der Iman wiederum sieht sich in seiner Würde verletzt und seine Religion diskriminiert. Die Schule entschuldigte sich nun bei dem Mann.
Mit fatalen Folgen. Denn hier entsteht für weite Teile der Bevölkerung ein verhängnisvolles Bild: Nämlich das eines Kotaus vor einer dogmatisch ausgelegten Version einer Religion, die vielen im Land fremd erscheint, deren Werte sie nicht teilt und deren archaisch erscheinende kulturelle Ausprägungen in Europa nicht nur auf Unverständnis stoßen sondern vielfach schlicht abgelehnt werden.
Das liegt daran, dass es bei der Verweigerung der Geste des Handschlags ähnlich wie bei dem nun schon jahrzehntelangen andauernden Disput um das Kopftuch um ein Symbol geht, in das alles Mögliche hinein interpretiert werden kann: Frauenfeindlichkeit, Sexismus, Verachtung westlicher Werte, mangelnde Integrationsbereitschaft.
Nun könnte man sich intellektuell mit der Frage auseinandersetzen, mit welcher theologischen Begründung der Imam eine fremde Frau nicht berühren möchte. Gewiss ließe sich auch hier ein gewisser Chauvinismus religiöser Quellen kaum ausschließen. Doch das ist gar nicht der Kern der Frage.
Es geht vielmehr darum, endlich festzulegen, was im täglichen Miteinander der Menschen in Europa und Deutschland gesellschaftsfähig ist und was nicht. Und zwar über den gesetzlich festgelegten Rahmen hinaus. Denn der Common Sense in einem Land ist weit mehr als das, was gesetzlich nicht verboten ist.
Und genau hier haben weite Teile der Bevölkerung das Gefühl, dass man Menschen, die sich auf die Dogmen ihrer Religion berufen, viel zu weit entgegenkommt. Sei es bei der Burkafrage, dem gewöhnlichen Kopftuch im Klassenzimmer, der Diskussion um den Handschlag oder der Frage, wann etwas mit einer Religion zu tun hat und wann nicht. Auf den aktuellen Fall bezogen heißt das: Nicht nur die Lehrerin fühlt sich durch die Verweigerung des Handschlags herabgesetzt – auch weite Teile der Mehrheitsgesellschaft. Und nicht wenige Menschen vermuten, genau dies sei das Ziel des Imams.
In diese Kerbe hinein stoßen Rechtspopulisten wie Pegida oder AfD, die das gesellschaftliche Rad am liebsten ins Jahr 1950 oder noch weiter zurückdrehen wolle. In dieser verklärten Rückwärtsgewandheit treffen sich übrigens Nationalisten und Religiöse nahezu aller Seiten und jedweder Couleur. Doch das nur am Rande.
Wichtiger ist es festzustellen, dass der Islam, was die Stellung der Frau, die Werte der Aufklärung, was sexuelle Selbstbestimmung oder Kritikfähigkeit betrifft, in seiner Verweigerungshaltung gegenüber der Moderne nicht allein ist. Hinter der Verschleierung und der Berührungsangst gegenüber Frauen steckt vielmehr ein Menschenbild, das auch in dogmatischen Auslegungen des Juden- und des Christentums zu finden ist. Ein orthodoxer Rabbi geht zu fremden Frauen auf die gleiche körperliche Distanz wie der oben erwähnte Berliner Imam. Und auch christliche Sektierer sind in Fragen der Sexualmoral alles andere als liberal.
Auch wer meint, das Ganze sei eine reine „Frauenfrage“, irrt. Es geht vielmehr um eine Haltung, die von institutionalisierter Verklemmtheit und Unsicherheit geprägt ist und die keineswegs nur frauenfeindlich ist. Auch das dahinter stehende Männerbild ist mehr als befremdlich, unterstellt es doch, dass jede noch so harmlose Berührung des weiblichen Geschlechts bei der Spezies Mann unweigerlich zu einem Gefühl der „Lust“ führt und der Mann diese „Begierde“ nicht im Geringsten unter Kontrolle hat. Das Dogma lautet also: Der triebgesteuerte Mann ist eine permanente Bedrohung und ein potentieller Vergewaltiger. Auch in diesem Punkt sind sich übrigens nahezu alle traditionell ausgelegten Religionsansätze einig. Ein solches Religionsverständnis befördert zudem fast zwangsläufig sexuelle Tabus und sexuelle Gewalt. Es hat darüber hinaus enormen Einfluss auf das Verhalten der Geschlechter zueinander und die Frage der Gleichberechtigung.
Doch sind Berlin oder Köln nicht Mumbai, Jerusalem oder der Bibel-Belt und deshalb muss die Auseinandersetzung des säkularen Staates hierzulande vor dem Hintergrund einer zahlenmäßig relevanten muslimischen Minderheit in erster Linie mit den Vorschriften und der Anspruchshaltung des konservativen Islam geführt werden. Eines Islam, der auch in seiner hierzulande gelebten Form dringend einer Reformation und einer inneren Modernisierung bedarf.
Wir müssen uns also endlich damit auseinandersetzen, was Zwangsheiraten, „Friedensrichter“, Scharia-Gerichte in Kreuzberg oder Duisburg Marxloh sowie „Ehrenmorde“ mit einem alltäglich gelebten Verständnis von Religion zu tun haben. Wir müssen hinterfragen, ob wir es hinnehmbar finden mit dem Hinweis auf das Geschlecht einen Handschlag zu verweigern und wir müssen uns fragen, welches Frauenbild sich hinter einer Niqab oder einem Tschador verbirgt – und ob wir ein solches Bild tolerieren wollen oder ähnlich medienwirksam und nachhaltig geißeln wie das antiquierte Rollenverständnis einer ehemaligen Tagesschausprecherin.
Wir brauchen Debatten darüber, was ein tradiertes Religionsverständnis mit Übergriffen wie in der Kölner Sylvesternacht zu tun hat. Wir müssen im öffentlichen Diskurs klären, welche Anleihen religiös motivierte Attentäter bei dem Mainstreamislam nehmen und welches Bild von den liberalen Werten des Westens sie dazu veranlasst, mit einem Laster in eine Menschenmenge zu rasen oder die Redaktion eines Satiremagazins zu überfallen. Und wir müssen als Politiker, Künstler oder Medienschaffende – aber natürlich auch als Gesellschaft insgesamt – endlich den intellektuellen und öffentlichen Schulterschluss mit all denjenigen Menschen aus Syrien, der Türkei oder dem Iran herbeiführen, die nicht zurück ins theologische Mittelalter wollen.
Das alles ist schwierig, unangenehm und trifft fast zwangsläufig auf den erbitterten Widerstand konservativ, religiöser Kräfte, die sich stets und immer in ihrer Religionsfreiheit beschnitten sehen und sich in einer öffentlich zelebrierten Opferrolle sichtlich wohl fühlen. Vor allem, weil diese Opferrolle und der künstliche Kampfbegriff der Islamophobie sie vor genau der intellektuellen und öffentlichen Auseinandersetzung mit der Moderne schützt, die sie scheuen wie der Teufel das Weihwasser.
Der Autor und Essayist Henryk M. Broder hat einmal gesagt: „Schon möglich, dass der Islamismus die hässliche Fratze des Islam ist. Das eigentliche Problem aber ist und bleibt das wahre Gesicht hinter der Maske.“ Er hat Recht. Und deshalb müssen wir den Islam in seiner konservativen und auch bei uns im Alltag vielfach gelebten Auslegungsart kritisieren, um ihn zur Aufgabe verkrusteter Traditionen zu zwingen. Genau so kam es übrigens zur Reformation anderer Religionen – dem Katholizismus, dem Protestantismus, dem Judentum. Am Anfang standen stets Kritik sowie ein Reformdruck von innen und außen. Diese Religionskritik ist übrigens die ureigenste Aufgabe der progressiven Kräfte im Lande, sie darf nicht der AfD oder Pegida überlassen bleiben.
Sollten wir aber scheitern einen zeitgemäßen Islam in Deutschland zu verankern und uns bei der Frage der Auslegung, was islamisch ist, weiterhin von der Meinung konservativer Moscheeverbände oder der AKP nahen DITIB beeinflussen lassen, wird auch die Integration von Millionen Zuwanderern muslimischen Glaubens nahezu zwangsläufig nicht stattfinden. Das stärkt in letzter Konsequenz nationalistische und rechte Bewegungen und führt zu einer Spaltung der Gesellschaft. Wer das nicht will, muss sich kritisch mit dem Islam auseinandersetzen.
Auch wer meint, Kritik an ihrer Religion sei für Muslime zu kränkend oder die Muslime hierzulande seien per se unfähig, sich mit ihrem Religionsverständnis und dessen Folgen auseinanderzusetzen, schätzt die gesellschaftlichen Fliehkräfte, die eine solche Haltung erzeugt, völlig falsch ein. Er spricht zudem in letzter Konsequenz Muslimen die Fähigkeit ab, kritisch zu denken und hat mehr mit Frauke Petry und Beatrix Storch gemeinsam als er denkt.
Eine offene, tabufreie und andauernde Debatte dagegen wird langfristig zu Lösungen führen, zum Nachdenken und zu einem tatsächlich gelebten Miteinander der Kulturen. Sie wird Rechtspopulisten und Islamisten gleichzeitig schwächen und sie wird dazu führen, das Muslime in Deutschland nicht länger auf die Opfersymbolik festgelegt sind, sondern als selbstbestimmte Bürgerinnen und Bürger mit gleichen Rechten aber auch mit den gleichen Pflichten wahrgenommen werden. Genau das wird übrigens der Zeitpunkt sein, in dem der Islam für die breite Mehrheit der Menschen in diesem Land zu Deutschland gehört.